V.A. "Reto Wehrli - 'Verteufelter Heavy Metal. Skandale und Zensur in der neueren Musikgeschichte'" (Buch)
(Telos Verlag)

Der Psychologe Reto Wehrli veranschaulicht in seinem Buch, in welchem Umfang Heavy-Metal-Musik seit ihrer Entstehung durch Verleumdungen und Zensureingriffe von konservativen Fundamentalisten bekämpft wird. In diesem Zusammenhang macht Wehrli ebenfalls deutlich, daß im 20. Jahrhundert auch andere Formen der Populärmusik solche Angriffe erdulden mußten. Der Autor hat sein Mammutwerk (741 Seiten!) übersichtlich in zwei Hauptteile untergliedert. Der erste Teil, der den Titel "Grundlagen und Geschichte" trägt, stellt die weltanschaulichen Voraussetzungen und Motive vor, die die Basis für die konservativen Rufmordkampagnen und Zensureingriffe bilden. Im zweiten Teil wird es dann sehr konkret, indem vor allem unzählige Fallbeispiele von Musikzensur dargestellt werden. Wobei der Autor hier vor allem die Länder USA, Großbritannien, Deutschland, Schweiz und Frankreich im Blick hat.

Im einzelnen kann man im ersten Teil unter anderem in die Wahnvorstellungen katholischer Traditionalisten, freikirchlich-evangelikaler Fundamentalisten, der Zeugen Jehovas und der Anhänger von Rudolf Steiners Anthroposophie abtauchen. Dies dürfte zumindest den Lesern, die das Mittelalter geistig überwunden und in der Aufklärung angekommen sind, eine unterhaltsame Märchenstunde voller Schrecken und Grusel bescheren. Welcher Metal-Hörer hat von den phantastischen Geschichten und Vorwürfen nicht schon auf die ein oder andere Weise gehört bzw. ist damit konfrontiert worden?! Wehrli hat nun alle Märchen, Sagen und Legenden detailliert gesichtet und vorbildlich zusammengefaßt. Hier nun ein paar der mehr oder weniger bekannten Klassiker: Wegen Heavy-Metal-Musik geraten die (jugendlichen) Fans auf die schiefe Bahn, nehmen Drogen, werden sexuell auffällig, begehen Selbstmord oder werden sogar zu Amokläufern.

Diese Anschuldigungen krönen manche fundamentalistischen Eiferer mit der Behauptung, daß sich auf Heavy-Metal-Platten sogenannte "verdeckte Rückwärtsbotschaften" ("Backward Maskings") befinden, die die Metal-Fans zu ihrem "satanischen" Treiben motivieren. Die Vertreter dieser Behauptung gehen davon aus, daß diese rückwärts gesprochenen Texte etlichen Heavy-Metal-Songs beigemischt sind und beim ganz normalen Hören der Stücke ihre unheilvolle Wirkung entfalten. Dabei spielt es dann angeblich gar keine Rolle, daß der Hörer diese Botschaften nur als umgedrehte und daher sinnlose Tonfolgen wahrnimmt. Selbst wenn diese Botschaften kaum oder gar nicht zu hören sind, sollen sie den Hörer quasi in einen ferngesteuerten Zombie verwandeln, weil er sie unterschwellig bzw. unbewußt eben doch wahrnimmt. (Nur so am Rande: Einige Bands haben ihre Musik dann tatsächlich mit Rückwärtsbotschaften versehen, um ironisch auf diese Vorwürfe zu reagieren.)

Der Autor macht sich die Mühe, all diese Anschuldigen Schritt für Schritt zu widerlegen. Zum Beispiel verweist Wehrli auf zahlreiche psychologische Testreihen, um überzeugend darzulegen, daß die besagten Rückwärtsbotschaften ohnehin nicht die gewünschte Wirkung entfalten können. Das kognitive System des Menschen ist nämlich schlichtweg nicht dazu in der Lage, Nachrichten dieser Art sinnvoll zu erfassen. Auch erfährt man, daß keine Beweise dafür vorliegen, daß unbewußt wahrgenommene Botschaften dazu in der Lage sind, einen Menschen in seiner Weltanschauung umzupolen. An anderer Stelle stellt Wehrli grundsätzlich klar, daß die empirisch arbeitende Psychologie bislang noch nicht belegen konnte, daß Medieneinflüsse eine substantielle Motivation für kriminelles oder anderes problembehaftetes menschliches Verhalten darstellen. Schließlich beendet der Autor den ersten Teil seines Megawerks, indem er in Gestalt des NS-Black-Metal auch tatsächliche Mißstände des Heavy Metals thematisiert.

Der zweite Teil des Buches startet mit interessanten Ausführungen zu den unterschiedlichen Zensurpraktiken in den oben genannten Ländern. Wehrli informiert beispielsweise darüber, daß in der USA tendenziell bei medialen Gewaltdarstellungen eine recht große Toleranz herrscht. Hingegen ist dort die Zensur bei sexuellen und erotischen Themen relativ streng. In Deutschland präsentiert sich die Lage genau umgekehrt: Wenn hier die Behörden gegen die Kunstfreiheit vorgehen, ist zumeist die Darstellung von Gewalt der Auslöser dafür, während die Zensur relativ selten einschreitet, wenn sich Künstler bei ihren Werken sexueller oder erotischer Motive bedienen. Außerdem gehört es zur deutschen Zensurpraxis, daß eine totale Zensur eines Kunstproduktes im Sinne eines allumfassenden Vertriebsverbotes eher selten stattfindet. Bevorzugt werden subtilere Zensurmethoden verwendet, indem man zum Beispiel die Werbung für gewisse Erzeugnisse verbietet.

Bei den Fallbeispielen von Musikzensur spannt Wehrli einen recht weiten Bogen. Beispielsweise werden folgende Künstler berücksichtigt: Chuck Berry, The Beatles, Alice Cooper, Led Zeppelin, Black Sabbath, Judas Priest, Dead Kennedys, Iron Maiden, Udo Jürgens, Venom, Falco, Slayer, Die Ärzte, Cannibal Corpse, Marilyn Manson, Cradle of Filth, Dixie Chicks, Rammstein und Slipknot. Beim Lesen der einzelnen Fallbeispiele wird man mit allerlei interessanten bis skurrilen Begebenheiten konfrontiert. Zum Beispiel erfährt man, daß sich ausgerechnet Ozzy Osbourne, der laut Wehrli der meistverklagte Rockmusiker aller Zeiten sein dürfte, vor den Karren der politischen Inszenierung des religiösen Eiferers Georg W. Bush spannen läßt. Witziger ist es da schon, zu lesen, daß Jello Biafra von den Dead Kennedys bei seiner Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters der Stadt San Fransisco unter anderem forderte, daß Geschäftsleute ein Clownskostüm tragen müssen. Wütend kann man hingegen werden, wenn man liest, daß ein Lied Udo Jürgens vom Bayerischen Rundfunk Sendeverbot erhielt, weil darin die päpstliche Ablehnung von Verhütungsmitteln in den Entwicklungsländern kritisiert wird.

Betrachtet man schließlich das Werk erneut in seiner Gesamtheit, kommt man nicht umhin, ein sehr positives Abschlußurteil zu fällen. Wehrli punktet zweifelsfrei vor allem durch seine fundierte wissenschaftliche Sachkenntnis. Auch überzeugt die idealistische Leidenschaft, mit der der Autor geradezu heldenhaft den durchaus ambitionierten Rekordversuchen menschlicher Dummheit entgegentritt. Außerdem hat der Wälzer das Prädikat konsumfreundlich verdient. Die Argumentationen sind tatsächlich recht nachvollziehbar gestaltet: Wehrli bedient sich eines lockeren und gut verständlichen Schreibstils, die zahlreichen fremdsprachigen Textbelege wurden alle ins Deutsche übersetzt, es gibt viel veranschaulichendes Bildmaterial zu bestaunen und die besonders umstrittenen Plattenveröffentlichungen finden sich in einer umfangreichen Diskographie aufgelistet.

Der positive Gesamteindruck wird auch kaum dadurch getrübt, daß sich Wehrli zwei kleine Schnitzer erlaubt hat. Zum einen geht er fälschlicherweise davon aus, daß es der politische Denker Carl Schmitt ablehnt, Ausnahmefälle zu berücksichtigen, um politische Theorien zu entwickeln. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Schmitt legt gesteigerten Wert darauf, Ausnahmefälle zu betrachten, um politische Erkenntnisse zu gewinnen. Zum anderen behauptet Wehrli zu Unrecht, daß es nach der deutschen Wiedervereinigung einer rechtsextremistischen Partei gelungen sei, in den Bundestag einzuziehen. Glücklicherweise war dies bislang nicht der Fall. Menschliche Dummheit scheint ja doch gelegentlich Grenzen zu kennen bzw. heilbar zu sein. Daran scheint offensichtlich auch Reto Wehrli zu glauben. Ansonsten hätte er sich wohl nicht dazu motivieren können, dieses überaus verdienstvolle Buch zu schreiben. Weitere Infos: www.telos-verlag.de (stefan)


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